Gefährdungsbeurteilung
Was ist eine Gefährdungsbeurteilung?
Nach § 5 ArbSchG ist jeder Arbeitgeber zwingend dazu verpflichtet, eine Beurteilung der für die Beschäftigten mit ihrer Arbeit verbundenen Gefährdung vorzunehmen mit dem Ziel zu ermitteln, welche Maßnahmen des Arbeitsschutzes erforderlich sind.
Die Gefährdungsbeurteilung hat somit ein einziges Ziel: Festzustellen, ob und welche Maßnahmen des Arbeitsschutzes zur Sicherung und Verbesserung der Gesundheit der Beschäftigten erforderlich sind.
In Betrieben mit Betriebsräten ist diese Gefährdungsbeurteilung mitbestimmungspflichtig.
Der Arbeitgeber darf deshalb eine Gefährdungsbeurteilung nicht ohne Betriebsrat vornehmen. Betriebsrat und Arbeitgeber müssen gemeinsam vereinbaren, wie die Gefährdungsbeurteilung in dem konkreten Betrieb vorzunehmen ist.
Es empfiehlt sich hierbei, eine Betriebsvereinbarung Gefährdungsbeurteilung abzuschließen.
Die Gefährdungsbeurteilung umfasst nicht nur eine Beurteilung von unmittelbaren Gefahren für die Gesundheit der Mitarbeiter. Der Begriff der Gefährdung greift bereits früher noch, bevor überhaupt eine akute Gefahrenlage entsteht. Deshalb darf die Gefährdungsbeurteilung sich nicht darauf beschränken, z.B. Stolperfallen im Betrieb oder defekte Bürostühle zu ermitteln, die eine akute Gesundheitsgefahr für die Beschäftigten auslösen. Vielmehr werden durch die Gefährdungsbeurteilung im Vorfeld Gefährdungen ermittelt, um bereits präventiv zu verhindern, dass überhaupt Gefahrenlagen entstehen können.
Die Gefährdungsbeurteilung ist daher zentrales Element des Arbeits- und Gesundheitsschutzes. Mit ihr fängt der Schutz der Gesundheit als der körperlichen und geistig-psychischen Integrität des Arbeitnehmers an. Je genauer und wirklichkeitsnäher die Gefährdung im Betrieb ermittelt und beurteilt wird, desto zielsicherer können konkrete Maßnahmen des Arbeitsschutzes getroffen werden ( → BAG vom 12.08.2008 – 9 AZR 1117/06).
In dieser zentralen Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahre 2008 hat der 9. Senat grundsätzlich einen Anspruch auf Gefährdungsbeurteilung bejaht. Arbeitnehmer haben daher einen Anspruch gegen ihren Arbeitgeber auf Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung. Die Entscheidung ist insoweit richtungweisend.
Der klagende Arbeitnehmer hat im konkreten Fall das Verfahren dennoch verloren, weil er versucht hat, dem Arbeitgeber genau vorzuschreiben, wie diese Gefährdungsbeurteilung für seinen Arbeitsplatz auszusehen hat. Beschäftigte haben aber nach dieser Entscheidung keinen Anspruch auf eine Gefährdungsbeurteilung nach von ihnen selbst bestimmten Kriterien und Methoden. § 5 Abs. 1 ArbSchG eröffnet für den Arbeitgeber einen Handlungs- und damit einen Beurteilungsspielraum. Die Norm ist eine ausfüllungsbedürftige Rahmenvorschrift. Sie enthält keine zwingenden Vorgaben, wie die Gefährdungsbeurteilung durchzuführen ist (so schon → BAG vom 08.06.2004 – 1 ABR 13/03).
Existiert im Betrieb ein Betriebsrat, so hat dieser bei der Ausfüllung des Beurteilungsspielraums durch den Arbeitgeber nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG mitzubestimmen. Dadurch soll im Interesse der betroffenen Arbeitnehmer eine möglichst effiziente Umsetzung des gesetzlichen Arbeitsschutzes im Betrieb erreicht werden ( → BAG vom 15.01.2002 – 1 ABR 13/01; → BAG vom 08.06.2004 – 1 ABR 13/03).
Der Arbeitnehmer kann bei nach → § 87 Abs.1 Nr. 7 BetrVG mitbestimmungspflichtigen Maßnahmen nur verlangen, dass der Betriebsrat sein Initiativrecht ausübt, um mit dem Arbeitgeber die erforderliche Einigung über die Art und Weise der Durchführung der Gefährdungsbeurteilung zu erzielen.
Ziel der Gefährdungsbeurteilung
Der Betriebsrat muss sich immer wieder vor Augen halten, dass die Gefährdungsbeurteilung nicht nur eine Analyse der Gefährdungen ist, aus der nichts folgt.
Die Gefährdungsbeurteilung hat ein einziges Ziel: Die Ermittlung der erforderlichen Maßnahmen des Gesundheitsschutzes.
(1) Der Arbeitgeber hat durch eine Beurteilung der für die Beschäftigten mit ihrer Arbeit verbundenen Gefährdung zu ermitteln, welche Maßnahmen des Arbeitsschutzes erforderlich sind.
(1) Maßnahmen des Arbeitsschutzes im Sinne dieses Gesetzes sind Maßnahmen zur Verhütung von Unfällen bei der Arbeit und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren einschließlich Maßnahmen der menschengerechten Gestaltung der Arbeit.
Die Gefährdungsbeurteilung nach § 5 ArbSchG dient somit dem Ziel, die Maßnahmen zu ermitteln, die zur Verhütung von Unfällen und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren erforderlich sind, einschließlich Maßnahmen der menschengerechten Gestaltung der Arbeit.
Am Ende der Gefährdungsbeurteilung, die in Betrieben mit Betriebsrat von Arbeitgeber und BR gemeinsam geregelt werden muss, stehen daher Betriebsvereinbarungen, die die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes im Betrieb regeln und Umsetzungsmaßnahmen festlegen. Dies sind Betriebsvereinbarungen nach § 87 Abs.1 Nr.7 BetrVG iVm §§ 3,2 ArbSchG.
Sind die Temperaturen zu hoch oder zu niedrig, Frischluftzufuhr nicht oder nicht ausreichend gewährleistet, so können die Betriebsparteien sich auf eine Betriebsvereinbarung Raumklima verständigen. Im Streitfall würde sodann die Einigungsstelle gemäß § 87 Abs. 2 iVm § 76 BetrVG entscheiden.
Von der Gefährdungsbeurteilung zur Durchführung von Maßnahmen
Schematisch kann man kann die Gefährdungsbeurteilung grob in vier Stufen aufteilen:
- Problem bzw. Gefährdung erkennen und beschreiben
- Ursachen des Problems feststellen
- Feststellung, welche Maßnahme oder Maßnahmen zur Behebung oder Abmilderung der Gefährdung erforderlich sind
- Entscheidung, welche Maßnahme oder Maßnahmen getroffen werden, „Ob“ und ggf. „Wie“ der Maßnahme festlegen
Hieraus wird unter Hinzuziehung eines Rechtsanwalts ein Betriebsvereinbarungsentwurf erstellt.
Mit diesem Entwurf geht es sodann in die Verhandlungen. Der BR muss erkennen, dass ihm auf jeder Stufe
a) die Möglichkeit offen steht, technische oder medizinische Sachverständige,
Berufsgenossenschaft, Betriebsarzt etc. hinzuziehen und vor allem ihm
b) auf jeder Stufe ein Mitbestimmungsrecht zusteht.
Dies gibt ihm die Möglichkeit sicherzugehen, dass er das medizinisch und technisch richtige vorschlägt und die Möglichkeit notfalls unter Zuhilfenahme der Einigungsstelle, erforderliche Maßnahmen durchzusetzen.
Vier Stufen, die der BR verhandeln, im Zweifel Sachverständige hinzuziehen und notfalls mit Einigungsstelle durchsetzen kann:
- Problem bzw. Gefährdung erkennen und beschreiben, im Zweifel oder im Streitfall Gefährdungsbeurteilung speziell für diesen Bereich einfordern und regeln gemäß §§ 5 ArbSchG, 87 Abs.1 Nr. 7 BetrVG.
- Ursachen des Problems feststellen, im Zweifel oder im Streitfall Gefährdungsbeurteilung speziell für diesen Bereich einfordern und regeln gemäß §§ 5 ArbSchG, 87 Abs.1 Nr. 7 BetrVG.
- Feststellung, welche Maßnahme oder Maßnahmen sind zur Behebung oder Abmilderung der Gefährdung erforderlich, im Zweifel oder im Streitfall Gefährdungsbeurteilung speziell für diesen Bereich einfordern und regeln gemäß §§ 5 ArbSchG, 87 Abs.1 Nr. 7 BetrVG.
- Entscheidung, welche Maßnahme oder Maßnahmen werden getroffen, Betriebsvereinbarung über „Ob“ und „Wie“ der Maßnahme, im Zweifel oder im Streitfall Gefährdungsbeurteilung speziell für diesen Bereich einfordern und regeln gemäß §§ 5 ArbSchG, 87 Abs.1 Nr. 7 BetrVG.
Sowohl der Betriebsrat als auch der Arbeitgeber müssen diese vier Stufen durchlaufen, jeweils Beurteilungen über das Problem bzw. die Gefährdung, die Ursachen bzw. Quellen der Gefährdung, die Feststellung der Maßnahmen, die erforderlich sind und die Entscheidung über das „Ob“ und das „Wie“ der Maßnahme treffen.
Erstellung einer BV Gefährdungsbeurteilung
Das wichtigste ist, dass der Betriebsrat zunächst versteht, dass er selbst Experte und Kenner der Gefährdungslagen im Betrieb ist. Wer anders als der Betriebsrat kann auf Arbeitnehmerseite die Gesundheitsgefahren am besten beurteilen? Er sollte daher alle Probleme, Gefahren und Gefährdungslagen für die Gesundheit der Arbeitnehmer in einer Liste oder Tabelle notieren.
Als zweites sollte er aus seiner Sicht Quellen und Ursachen dieser Probleme diskutieren und ebenfalls in der Liste/Tabelle notieren.
Schließlich sollte der Betriebsrat sich auch über die Maßnahmen klar werden, die aus seiner Sicht erforderlich sind, um die Probleme, Gefahren und Gefährdung abzustellen.
Falls eine Gefährdung technisch nicht gänzlich zu vermeiden ist, sind Maßnahmen festzuhalten, um die Gefährdung zumindest zu verringern.
Der Betriebsrat sollte hier eine Entscheidung treffen, welche Maßnahmen aus seiner Sicht erforderlich sind, um die Probleme abzustellen oder zumindest Gefährdungssituationen zu verringern.
Tipp:
- Erstellen einer Tabelle mit folgenden Inhalten:
- Art des Problems, zB Gefahrensituationen, Beschwerden, Krankeiten
- Ursache oder Ursachen feststellen (Gefährdungsquelle)
- Maßnahmen zur Vermeidung oder Beseitigung der Ursachen ggfs. Maßnahmen zur Verringerung der Gefährdungslagen
- Entscheidung, welche Maßnahmen aus Sicht des Betriebsrats notwendig sind
Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates
Im Bereich der Gefährdungsbeurteilung haben die Betriebsräte ein sehr weitgehendes Mitbestimmungsrecht.
Wie in konkreten Fällen Risikobeurteilungen, Präventionsmaßnahmen, Wirksamkeitskontrollen und die Dokumentationspflicht der Gefährdungsbeurteilung umzusetzen sind, kann in Betriebsvereinbarungen geregelt werden.
Für Mitarbeiter in der Verwaltung oder im IT-Bereich könnte durch Betriebsvereinbarung eine Prävention psychischer und psychosomatischer Erkrankungen angestrebt werden, indem Projektplanungen hinsichtlich der Arbeitsdichte und der Arbeitsbelastung im Rahmen von Gefährdungsbeurteilungen beurteilt werden, um so erforderliche Maßnahmen des Arbeitsschutzes zu ermitteln. Betriebsvereinbarungen können hier dafür sorgen, dass die Pflicht zum Schutze vor zu hoher Arbeitsdichte und Arbeitsbelastung in konkreten Projektplanungen erfüllt wird.
Das BAG sieht auch in der gesetzlichen zwingenden Vorgabe an die Arbeitgeber, eine Gefährdungsbeurteilung nach → § 5 ArbSchG zu machen, eine ausfüllungsbedürftige Rahmenvorschrift iSd → § 87 Abs.1 Nr. 7 BetrVG. Dies bedeutet, dass Betriebsräte und Arbeitgeber gemeinsam Regelungen zur Gefährdungsbeurteilung treffen müssen.
Einen guten Ansatz hatte ein BR im einem Fall gemacht und hat eine Regelung in der Einigungsstelle erzwungen. Der Arbeitgeber war damit nicht glücklich und stellte einen Antrag bei Gericht auf Feststellung, dass der Spruch der Einigungsstelle unwirksam ist.
Weitere Informationen zu diesem Fall finden Sie in unserer Rubrik Rechtsprechungs-ABC unter dem Stichwort → Gefährdungsbeurteilung und Einigungsstelle.
Gefährdungsbeurteilung ist mitbestimmungspflichtig
Was man unter Gefährdungsbeurteilung versteht, können Sie in unserer Rubrik Betriebsratsberater-ABC nachlesen.
→ BAG 1. Senat, Urteil vom 08.06.2004 – 1 ABR 13/03,
2. Instanz: LAG Niedersachsen
Das Bundesarbeitsgericht hat mit Beschluss vom 8. Juni 2004 – 1 ABR 13/03 dem Betriebsrat die Möglichkeit und die Verantwortung für die Stellung und Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung eingeräumt.
Der Betriebsrat hat nach dieser Entscheidung gem. § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG ein zwingendes Mitbestimmungsrecht in Bezug auf die Verpflichtung eines jeden Arbeitgebers gem. § 5 ArbSchG, eine Gefährdungsbeurteilung im Betrieb für jeden einzelnen Arbeitsplatz durchzuführen.
Darüber hinaus räumt diese Entscheidung den Betriebsräten auch Mitbestimmungsrechte ein bezüglich der aus der Gefährdungsbeurteilung ermittelten erforderlichen Maßnahmen des Gesundheitsschutzes gem. § 3 ArbSchG.
Schließlich macht der 1. Senat des Bundesarbeitsgerichts auch klar, dass auch bei den erforderlichen Unterweisungen nach § 12 ArbSchG der Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht hat.
In der Entscheidung rügte das Bundesarbeitsgericht den Spruch der Einigungsstelle, da die Betriebsvereinbarung, die in der Einigungsstelle zustande gekommen war, die Aufstellung des Konzepts zur Gefährdungsbeurteilung und zu den Unterweisungen dem Arbeitgeber überlassen hatte und die Beteiligung des Betriebsrats auf ein Beratungsrecht eingeschränkt wurde. Dies darf nicht sein. Vielmehr muss die Betriebsvereinbarung selbst die Gefährdungsbeurteilung und die Unterweisungen konkret für den konkreten Betrieb regeln.
Das Bundesarbeitsgericht hat durch diese Entscheidung die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats beim Gesundheitsschutz erheblich ausgeweitet und offene Rechtsfragen geklärt.
Angesichts der Bedeutung dieses Themas in der Gesellschaft und den Betrieben ist die Entscheidung aus Arbeitnehmersicht sehr zu begrüßen. Sie wird dazu verhelfen, konkrete gesundheitsschützende Regelungen in den Betrieben zugunsten der Arbeitnehmer verankern zu können.
Gefährdungsbeurteilung und Einigungsstelle
Was man unter Gefährdungsbeurteilung versteht, können Sie in unserer Rubrik Betriebsratsberater-ABC nachlesen.
→ BAG 1. Senat, Beschluss vom 08.06.2004 – 1 ABR 4/03,
2. Instanz: LAG Hamburg
Das BAG stellte zunächst fest, dass die Angelegenheit mitbestimmungspflichtig ist.
„2. § 5 ArbSchG iVm. § 3 BildscharbV und § 12 ArbSchG sind Rahmenvorschriften iSv. § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG, bei deren Ausfüllung durch den Arbeitgeber dem Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht zusteht.“
[aus den Orientierungssätzen]
Sodann hielt es fest, dass die Einigungsstelle selbst Regelungen treffen müsse und nicht dem Arbeitgeber den Auftrag geben könne, nach bestimmten Kriterien selbst eine entsprechende Regelung auszuarbeiten.
„4. Die Einigungsstelle kann das Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 BetrVG – ebenso wenig wie der Betriebsrat selbst – nicht dahin ausüben, dass sie dem Arbeitgeber das Recht einräumt, den mitbestimmungspflichtigen Tatbestand im Wesentlichen allein zu gestalten. Geht es um Regelungen nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG iVm. § 5 und § 12 ArbSchG muss sie vielmehr selbst eine Entscheidung darüber treffen, an welchen konkreten Arbeitsplätzen welche Gefährdungsursachen anhand welcher Kriterien und Methoden zu beurteilen und welche Unterweisungen vorzunehmen sind.“
[aus den Orientierungssätzen]
Die große Lehre aus dieser Entscheidung ist, dass Betriebsräte mit dem Selbstvertrauen, das sie selbst als Kenner des Betriebes, der Arbeitsplätze und der Arbeitsbedingungen am besten beurteilen können, welche Gefährdungen existieren und welche Maßnahmen erforderlich sind, um die Gefährdungen zu vermeiden oder zu verringern.
Betriebsräte sollten deshalb den Mut aufbringen, selbst Regelungen für ihren Betrieb zu schaffen und sich nicht allzu sehr auf tatsächliche oder vermeintliche Experten zu verlassen.
Natürlich haben Betriebsräte die Möglichkeit, auf alle Hilfsorgane – sei es den Arbeitsicherheitsausschuss oder die Berufsgenossenschaft oder die Landesämter für Arbeitsschutz oder auch externe Sachverständige – zurückzugreifen.
Thomas Berger
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